Schädel-Hirn-Traumata
Herr Prof. Biberthaler, wie sieht das klassische Vorgehen in Kliniken bei Kopfverletzungen aus?
Üblicherweise führen wir zunächst ein paar Tests durch, um den Zustand der verletzten Patienten einordnen zu können. Dies geschieht in der Regel derzeit anhand der so genannten Glasgow Coma Scale (GCS), die die drei Bereiche „Augenbewegungen“, „verbale Reaktionsfähigkeit“ und „motorische Antwort“ umfasst. Maximal 15 Punkte können Erwachsene und über 3-jährige Kinder dabei erreichen; für jüngere Kinder eignet sich dieser Test allerdings nur bedingt.
Werte zwischen 3 und 8 signalisieren ein Schweres Schädel-Hirn-Trauma. Punktwerte zwischen 9-12 gelten als moderates Schädel-Hirn-Trauma Ergebnisse zwischen 13 und 15 deuten auf ein leichtes Schädel-Hirn-Trauma hin.
Die Leitlinien vieler Länder sehen eine abklärende
Computertomographie (CT) für alle Patienten vor, deren Wert unter 15
liegt. Aber bei einem ersichtlichen klinischen Risiko, beispielsweise
Bewusstlosigkeit, starker Übelkeit oder Schmerzen – empfiehlt sich eine
Abklärung per CT durchaus auch bei vollem Punktwert. Denn die Angst vor
intrakraniellen Komplikationen besteht auch dort, selbst wenn diese
deutlich häufiger bei schweren Traumata auftreten. Dementsprechend viele
Untersuchungen per Hirn-CT – rund 95 bis 98 Prozent – liefern bei
leichten Schädel-Hirn-Traumata keinen pathologischen Befund; erfolgten
also letztendlich umsonst.
Woran liegt das?
Die Glasgow-Scale besitzt meiner Meinung nach durchaus Schwächen und stammt aus Zeiten, wo Computertomographien noch nicht zum medizinischen Alltag gehörten. Die Skala ist symptombezogen und funktioniert gut im mittleren Bereich – im oberen Bereich zwischen 13 und 15 Punkten hingegen wird sie unscharf aufgrund mangelnder Sensitivität als Indikation für ein CT. Demnach gibt es immer wieder mal Patienten, bei denen es trotz guter Glasgow-Werte zu Komplikationen kommt. Um dies zu verhindern, macht man dann lieber zur Sicherheit ein CT.
Oder andersherum: Ein nachts eingelieferter Patient, der kaum
Deutsch spricht oder versteht, verliert laut dieser Skala quasi
„automatisch“ schon mal Punkte, weil er nicht entsprechend reagieren
kann.
Wie häufig treten denn hierzulande Kopfverletzungen auf, die solch eine Einschätzung erfordern?
Kopfverletzungen sind bei uns die häufigste Indikation für eine medizinische Notaufnahme.
Es geht um rund 300.000 Patienten jährlich in Deutschland, weltweit
um mehr als 50 Millionen. Bei uns ermitteln wir anhand der Glasgow Coma
Scale in rund 80 Prozent der Fälle leichte Schädel-Hirn-Traumata, 15
Prozent der eingelieferten Patienten leiden unter einer moderaten Form
und 5 Prozent an einem schweren Schädel-Hirn-Trauma.
Ein internationales Wissenschaftsteam hat nun einen Bluttest entwickelt und getestet, der den behandelnden Ärzten eine Entscheidungshilfe zum weiteren Vorgehen liefern könnte. Was war das Ziel dabei?
Es ging vor allem darum, einen zusätzlichen quantitativen und vom Untersucher unabhängigen Faktor ins Spiel zu bringen, um die Indikationen für eine Computertomographie zu verbessern und dadurch überflüssige Hirnscans zu vermeiden. Und zwar gleich aus mehreren Gründen: Da ist zum einen die Strahlenbelastung für den Patienten von rund 1 Millisievert – das entspricht der natürlichen Strahlenbelastung pro Jahr. Einige Patienten benötigen außerdem eine Sedierung oder Intubation für diese Untersuchung, beispielsweise Kinder oder stark alkoholisierte Patienten. Zum anderen binden Computertomographien Personal, erfordern auch eine gewisse Logistik und sind kostenintensiv. Speziell an Wochenenden sind die Geräte pausenlos im Einsatz und es kommt zu entsprechenden Wartezeiten mit verspäteten Diagnosen.
Ein weiteres Ziel war es, die Sport-Cuncussion-Verletzungen künftig besser in den Griff zu bekommen. Ein noch gar nicht so lange zurückliegendes Beispiel liefert das diesjährige Champions League Finale zwischen dem FC Liverpool und Real Madrid, bei dem Sergio Ramos dem Liverpooler Keeper Loris Karius einen Ellenbogen in die Schläfe rammte und der daraufhin reichlich desorientiert reagierte. Per Blut-Schnelltest hätte man künftig die Chance, bei solchen Sportlern zügig eine Hirnbeteiligung festzustellen, sie schnell auszuwechseln und gegebenenfalls weitere Untersuchungen anzuordnen.
Wir wollten letztendlich einen Parameter finden, der eine
zuverlässige Einschätzung ermöglicht, ob bei leichteren Kopfverletzungen
ein CT überhaupt nötig ist oder nicht. Und das ist uns mit zwei
Biomarkern gelungen: den Proteinen UCH-L1 und GFAP. Diese beiden
Hirnproteine hatten sich bereits in Vorstudien als am
vielversprechendsten erwiesen.
Was zeigen diese Biomarker denn an?
Beide Eiweißstoffe kommen im Gehirn vor und sind im Blut
normalerweise nicht nachweisbar. Anders jedoch, wenn Kopfverletzungen
Gehirnzellen betreffen und eine offene Blut-Hirn-Schranke vorliegt. Dann
treten diese Proteine ins Blut über, die sich im Labor innerhalb von 20
Minuten nachweisen lassen. Vergleichbar mit dem Troponintest, mit dem
sich bereits seit Jahren ein Herzinfarktverdacht zuverlässig erhärten
oder entkräftigen lässt, ermöglicht dies künftig auch der Bluttest auf
Hirnproteine bei Schädel-Hirn-Traumata. In den USA hat er bereits die
FDA-Zulassung erhalten, die klinische Anwendung für Europa erwarte ich
im Laufe des kommenden Jahres.
Beschreiben Sie doch bitte kurz den Studienaufbau, die Test-Ergebnisse und die Zuverlässigkeit dieser Methode.
An der prospektiven multizentrischen Studie haben sich 24 internationale Studienzentren beteiligt. Eingeschlossen waren insgesamt knapp 2.000 erwachsene Patienten mit Schädel-Hirn-Traumata und Glasgow-Werten zwischen 9 und 15. Drei Stunden nach dem Trauma erfolgte eine Blutentnahme und -auswertung bezüglich der Hirnproteine UCH-L1 und GFAP. Zusätzlich erhielten die Patienten ein Kopf-CT.
Das Ergebnis: Bei allen rund 670 Studienteilnehmern mit negativem
Laborbefund bestätigte sich dies auch in der CT-Untersuchung – es waren
keine Hirnverletzungen nachweisbar. Und umgekehrt betrachtet: Alle per
Hirnscan festgestellten schwereren Verletzungen bestätigten sich durch
positive Blutergebnisse. Offensichtlich scheint der Labortest
ausgesprochen sensitiv zu sein und bereits bei kleinsten Blutungen
anzuschlagen, die selbst im CT nicht sichtbar sind. Denn bei rund zwei
Drittel der Patienten mit positivem Bluttest lieferte das CT keine
sichtbaren Hinweise auf intrakranielle Blutungen. Genau hier liegt ein
enormes Einsparpotenzial, was die Strahlenbelastung der Patienten, den
klinischen Aufwand und die Kosten betrifft. Die Zahl der
Computertomographien bei Kopfverletzungen ließe sich nach der
Testzulassung dadurch deutlich begrenzen – etwa um ein Drittel.
Warum sollten auch niedergelassene Mediziner von dem Bluttest wissen?
Da fallen mir spontan die Gynäkolog(inn)en ein. Schwangeren Frauen ist häufig mal schlecht, manchmal bis hin zur kurzen Ohnmacht, bei der sie möglicherweise auch auf den Kopf fallen. Bei diesen Patientinnen kommen CTs nicht in Frage, ebenfalls keine Kernspinuntersuchungen im ersten Trimenon. In solchen Fällen kann ein Bluttest viel Unsicherheit nehmen.